Urteil
Hilflosigkeit bei Schwerbeschädigten

Gericht:

BSG


Aktenzeichen:

9 RV 19/95


Urteil vom:

02.07.1997


Grundlage:

  • BVG § 35

Bei der Beurteilung der Hilflosigkeit i.S. des § 35 BVG bleibt - wie auch nach dem Recht der gesetzlichen Pflegeversicherung - der hauswirtschaftliche Hilfsbedarf grundsätzlich unberücksichtigt.

Rechtsweg:

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Quelle:

Behindertenrecht 03/1998

I. Der Kläger begehrt Pflegezulage nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Bei ihm sind an Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) Oberarmabsetzung rechts mit Amputationsfolgesyndrom, reizlose Durchschußnarbe an der linken Schulter und arthrotische Veränderungen im linken Schultergelenk anerkannt.
Das Versorgungsamt lehnte den Antrag auf Pflegezulage ab. Auch die Klage vor dem Sozialgericht (SG) hatte keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) den Beklagten verurteilt, Pflegezulage der Stufe I zuzuerkennen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger bedürfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens, wozu auch hauswirtschaftliche Verrichtungen gehörten, in erheblichem Umfang fremder Hilfe. Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte, zu den im BVG genannten Verrichtungen gehörten nur solche, die mit der Pflege und Wartung des Beschädigten zusammenhingen, wie dies auch nach der Neufassung des Pflegeversicherungsgesetzes (PflegeVG) gelte.
II. Die Revision des Beklagten ist begründet. Das angegriffene Urteil ist zu ändern und das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen, weil der Kläger nicht so hilflos ist, wie es der Anspruch auf Pflegezulage voraussetzt.
Nach § 35 Abs. 1 BVG n.F. wird eine Pflegezulage von 471,00 DM (Stufe I) monatlich gezahlt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung hilflos ist (Satz 1). Hilflos i.S. des Satzes 1 ist der Beschädigte, wenn er für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf (Satz 2).
Das LSG entnimmt der bisher zu § 35 Abs. 1 BVG ergangenen Rechtsprechung - zu Recht - eine Begrenzung der dort genannten "Verrichtungen" im wesentlichen auf folgende: An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme (Essen und Trinken), Körperpflege (Waschen, Kämmen, Rasieren), Verrichten der Notdurft (Stuhlgang, Wasserlassen), Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, Bewegung in der Wohnung und außerhalb), geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen, Fähigkeit zur Interaktion). Von dieser im Versorgungsrecht (vgl. die Zusammenfassung der Rechtsprechung in den Anhaltspunkten 1996, S. 37), im Steuerrecht (BFH, Beschluß vom 27.2.1996 - X B 148/95 - BFH/NV 1996, 603) und im früheren Recht der Sozialhilfe sowie im Lastenausgleichsrecht (BVerwG, Urteile vom 14.7.1977 - V C 23/76 - FEVS 26, 1 und vom 17.4.1986 - 3 C 24/85 - Buchholz 427.3 § 267 LAG Nr. 98) einheitlichen Rechtsprechung weicht das LSG ab, indem es auch hauswirtschaftliche Verrichtungen (Instandhaltung und Reinigung der Wohnung, Einkaufen von Lebensmitteln, Nahrungszubereitung, Wäschewaschen) zu den "Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens" (a.F. des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG) oder zu den "häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages" (ab 1.4.
1995 geltende Neufassung des § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG) zählt und so beim Kläger einen pflegezulageberechtigenden Hilfebedarf feststellt. Für seine abweichende Auffassung führt das LSG zwei Gründe an: den Gesichtspunkt der Menschenwürde, wonach alle für ein menschenwürdiges Leben notwendigen Verrichtungen einzubeziehen seien, und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu §§ 53 ff. Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGBV). Beide Gründe schlagen nicht durch.
Nach Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) ist die Würde des Menschen unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Die damit ausgesprochene Garantie der Menschenwürde könnte zwar auch gewisse Elemente von Ansprüchen auf tatsächliche Leistungen enthalten. Doch ist insoweit Zurückhaltung geboten. Die Menschenwürde ist noch nicht beeinträchtigt, wenn jemand in Not kommt; anders, wenn dies die Folge der Behandlung als Objekt durch den Staat oder durch Dritte ist (vgl. Jarass/Pieroth, GG, 3. Aufl. 1995, Art. 1 RdNr. 8). Erst aus dem Zusammenspiel des Art. 1 Abs. 1 GG mit dem Sozialstaatsprinzip ergibt sich ein Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums. Dieser Anspruch wird aber durch Leistungen der Sozialhilfe (für Kriegsopfer: der Kriegsopferfürsorge) erfüllt, deren ausdrückliche Aufgabe es nach § 1 Abs. 2 Bundessozialhilfegesetz ist, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.
Die inzwischen außer Kraft getretenen §§ 53 ff. SGB V sahen bei Schwerpflegebedürftigkeit auch Geldleistungen der Krankenversicherung an Versicherte vor, welche nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos waren, daß sie für die gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in sehr hohem Maße der Hilfe bedurften. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs waren - wie das LSG der Rechtsprechung des BSG zutreffend entnimmt - auch Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs zu berücksichtigen. Das ergibt sich aber - wie das LSG übersehen hat - vor allem aus § 55 Abs. 1 SGB V, wo neben der Grundpflege des Versicherten die "hauswirtschaftliche Versorgung" ausdrücklich genannt war (vgl. BSG SozR 3-2500 § 53 Nrn. 2, 4 und 5). Danach ist die Berücksichtigung hauswirtschaftlichen Hilfebedarfs - früher - im Krankenversicherungsrecht und - jetzt - im Recht der Pflegeversicherung (§ 14 Abs. 4 Nr. 4 Elftes Buch Sozialgesetzbuch [SGB XI]) kein brauchbarer Gesichtspunkt, um den Kreis der für Hilflosigkeit maßgebenden Verrichtungen des täglichen Lebens zu bestimmen.
Die Gesetzgebungsgeschichte bestätigt insoweit den Ausschluß hauswirtschaftlicher Verrichtungen. Nach den Materialien zum PflegeVG sind die bis dahin geltenden Begriffe der Pflegebedürftigkeit bzw. Hilflosigkeit bewußt aufgegeben worden. Der Gesetzgeber hat zwar für die Soziale Pflegeversicherung Elemente aus den bis dahin geltenden Regelungen anderer Gesetze übernommen und die dazu ergangene Rechtsprechung verwertet, hat aber den Begriff der Pflegebedürftigkeit im SGB XI neu definiert, indem er auch den Hilfebedarf bei hauswirtschaftlicher Versorgung einbezogen hat (BT-Drs. 12/5262 S. 95). Dagegen wollte der Gesetzgeber mit den Neuformulierungen in § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG und § 33 b Abs. 6 Satz 2 ESTG durch das PflegeVG eine unveränderte Fortgeltung des bis dahin bestehenden Rechtszustands sicherstellen und Leistungen oder Steuervorteile weder einschränken noch ausweiten (vgl. BT-Drs. 12/5262 S. 164, 172; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 12). Dieser Absicht des Gesetzgebers würde es zuwiderlaufen, wollte man - mit dem LSG - im Gegensatz zur ständigen Rechtsprechung hauswirtschaftliche Verrichtungen beim Hilfebedarf berücksichtigen und damit den Zugang Beschädigter zur Pflegezulage erleichtern.
Die vom Gesetzgeber mit der Neufassung des § 35 Abs. 1 Satz 2 BVG gebilligte Rechtsprechung zum Ausschluß allgemeiner hauswirtschaftlicher Verrichtungen bedarf auch nicht etwa deshalb der Korrektur, weil damit ein schädigungsbedingter Mehraufwand gänzlich unberücksichtigt bliebe. Ein solcher Mehraufwand für fremde Hilfe im Haushalt ist vom Beschädigten vielmehr aus der Grundrente und einer etwa gewährten Schwerstbeschädigtenzulage zu decken. Denn diese Leistungen dienen nicht nur dem Ausgleich immaterieller Schäden, sondern zugleich der Abgeltung des Mehraufwandes, der den Beschädigten als Folge der Schädigung "in allen Lebenslagen" erwächst (BSGE 30, 21, 25 mit Hinweis auf die Motive des Gesetzes; BSG SozR 3-3100 § 35 Nr. 4; Förster in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl. 1992, § 31 BVG RdNrn. 3 und 17). Dem Kläger wird danach zugemutet, die Kosten für eine gelegentliche Haushaltshilfe aus der ihm gewährten Grundrente von zur Zeit 1057 DM zu bestreiten.
Gegen den Ausschluß allgemeiner hauswirtschaftlicher Verrichtungen läßt sich auch nicht anführen, daß Beschädigte dadurch im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung schlechter gestellt würden als Nichtbeschädigte, weil § 13 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI bestimmt, daß Entschädigungsleistungen wegen Pflegebedürftigkeit nach dem BVG den Leistungen der Pflegeversicherung vorgehen. Denn "vorgehen" heißt nicht, daß etwa eine niedrigere Leistung nach dem BVG (z.B. Pflegezulage nach Stufe I: 471 DM monatlich) eine höhere Leistung nach dem SGB XI (z.B.
Pflegegeld der Pflegestufe II: 800 DM monatlich) in vollem Umfang verdrängt. § 34 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI stellt klar, daß der Anspruch auf das Pflegegeld in einem solchen Fall nur "insoweit" ruht, als der Versicherte Pflegezulage nach dem BVG erhält, mithin im Beispielsfall Pflegegeld in Höhe des Differenzbetrages von 329 DM zu zahlen ist (vgl. Trenk-Hinterberger in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 4, 1997, § 7 Rz. 27 ff.). Damit ist die Gleichbehandlung Beschädigter und Nichtbeschädigter im Recht der Pflegeversicherung sichergestellt.
Zu den regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages gehören zwar Essen und Trinken und die unmittelbar der Nahrungsaufnahme dienenden Verrichtungen (z.B. das Zerkleinern der Nahrung, das Öffnen von Dosen und Behältnissen zur Entnahme von Fertignahrung; vgl. dazu § 14 Abs. 4 Nr. 2 SGB XI; Kummer in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 4, 1997, § 13 Rz. 65 f.). Ob dazu auch das Zubereiten der Nahrung (vgl. dazu BSGE 63, 103, 105 f.), insbesondere das Kochen, gerechnet wird (vgl. für die Pflegeversicherung § 14 Abs. 4 Nr. 4; Kummer, a.a.O., Rz. 73), kann der Senat hier offenlassen. Denn selbst unter Hinzunahme dieser Verrichtungen bedarf der Kläger - wie noch auszuführen sein wird - fremder Hilfe nicht in pflegezulageberechtigendem Umfang.
Es liegt auch kein Fall vor, in dem ausnahmsweise hauswirtschaftliche Verrichtungen bei dem für Hilflosigkeit im Versorgungsrecht (und im Steuerrecht) erforderlichen Hilfebedarf berücksichtigt werden können, nämlich dann, wenn dafür ein besonderer, durch die Behinderung oder Beschädigung bedingter, personenbezogener Bedarf besteht (vgl. OVG Münster, FEVS 38, 370 = ZfSH/SGB 1989, 194; BVerwG, Urteil vom 14.7.1997, a.a.O.; vgl. außerdem Ziff. 2 des Rundschreibens des BMA vom 26.1.1994, BArbBl. 1994, 3/74 f. und Trenk-Hinterberger in Schulin, a.a.O., § 7 Rz. 14). Daran ließe sich denken, wenn der Beschädigte eine strenge Diät einhalten muß, die eine äußerst arbeitsaufwendige Zubereitung notwendig macht.
Ohne den vom LSG zu Unrecht berücksichtigten hauswirtschaftlichen Bedarf ist der Kläger nicht in dem für "Hilflosigkeit" erforderlichen Umfang hilfebedürftig. Der Umfang der regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens, die der Beschädigte ohne fremde Hilfe nicht ausführen kann, richtet sich nach dem Verhältnis der dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe noch bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein (vgl. BT-Drs. 12/2262 S. 164). Nach den Feststellungen des LSG bedarf der Kläger fremder Hilfe beim Waschen des Rückens und der Haare sowie beim Rasieren und beim Haarekämmen. Soweit das An- und Auskleiden erwähnt wird, ist dazu lediglich festgestellt, daß es dem Kläger schwerfalle. Damit fehlt es - noch - an Hilfebedarf auf diesem Gebiet. Setzt man das Waschen des Rückens, das Haarewasehen, das Haarekämmen und Rasieren ins Verhältnis zu den insgesamt anfallenden Verrichtungen im Ablauf eines jeden Tages, so besteht nur ein geringer Hilfebedarf, der die zeitliche Mindestgrenze von einer Stunde täglich (vgl. BSGE 67, 204/207; SozR 3-3870 § 4 Nr. 12) selbst dann nicht erreicht, wenn man das Zubereiten der Nahrung zusätzlich berücksichtigte.

Referenznummer:

R/R0507


Informationsstand: 16.04.1998