Die Revision der Beklagten wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Oktober 2010 wie folgt gefasst wird:
"Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 25. März 2009 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 29. April 2008 verurteilt, der Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab 1. Mai 2008 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren. ... "
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch im Revisionsverfahren.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin ab dem 1.5.2008 Altersrente für schwerbehinderte Menschen abschlagsfrei mit dem Zugangsfaktor 1,0 gewähren muss.
Die 1948 geborene Klägerin war an Brustkrebs erkrankt. Das Versorgungsamt H. stellte als Behinderung die "Entfernung einer Brustdrüsengeschwulst links" mit einem Grad der Behinderung (
GdB) von 50 fest (Bescheid vom 18.11.1994). Diesen Bescheid hob das Versorgungsamt nach Ablauf der Heilungsbewährung auf, veranschlagte den
GdB ab dem 20.7.2000 auf weniger als 20 und führte aus, der Klägerin stehe ein Ausweis als Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft noch bis zum Ablauf des Schwerbehindertenschutzes Ende November 2000 zu (Bescheid vom 17.7.2000). Entsprechendes vermerkte das Versorgungsamt im Schwerbehindertenausweis der Klägerin. Mit Bescheid vom 18.2.2003 änderte das Versorgungsamt den Bescheid vom 17.7.2000 und stellte ab dem 19.11.2002 wieder einen
GdB von 50 fest.
In der Rentenauskunft vom 31.3.2003 teilte die Beklagte mit, die Klägerin könne eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.5.2008 mit Abschlägen und ab dem 1.5.2011 abschlagsfrei beanspruchen. Die Klägerin machte daraufhin nachwirkenden Vertrauensschutz geltend und legte Schreiben des Versorgungsamts H. vom 31.7.2003 und des Landesversorgungsamtes B. vom 16.9.2003 vor, wonach ihr der Status einer Schwerbehinderten bis zum 30.11.2000 zustehe.
Mit Bescheid vom 26.9.2003 und Widerspruchsbescheid vom 19.12.2003 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf "Anerkennung der Vertrauensschutzregelung für Schwerbehinderte zum Stichtag am 16.11.2000" ab, weil der Aufhebungsbescheid des Versorgungsamtes H. vom 17.7.2000 vor dem Stichtag bindend geworden sei. Damit habe am 16.11.2000 keine Schwerbehinderteneigenschaft iS des § 236a Satz 5
SGB VI (in der Altfassung (
aF) von Art 6 Nr 34 b
SGB IX) vorgelegen. Bei der Schutzfrist des
§ 116 Abs 1 SGB IX, auf die sich die Klägerin berufe, handele es sich lediglich um eine Nachwirkungszeit aller Rechte und Pflichten, die sich aus dem
SGB IX ergäben.
Während des anhängigen Klageverfahrens gewährte die Beklagte der Klägerin ab dem 1.5.2008 Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wobei sie den Zugangsfaktor wegen vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente für 36 Kalendermonate von 1,0 um 0,108 (= 36 Monate x 0,003) auf 0,892 verminderte (Rentenbescheid vom 29.4.2008). Diesen Rentenbescheid hat das SG Heilbronn in entsprechender Anwendung des § 96
SGG in das anhängige Klageverfahren einbezogen und die Klage abgewiesen (Urteil vom 25.3.2009).
Das
LSG Baden-Württemberg hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Rentenbescheid vom 29.4.2008 zu ändern und der Klägerin Altersrente für schwerbehinderte Menschen ab dem 1.5.2008 unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu zahlen (Urteil vom 8.10.2010): Der Rentenbescheid vom 29.4.2008 sei gemäß § 96 Abs 1
SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden, weil er den ursprünglich angefochtenen und nunmehr erledigten (Alt-)Bescheid vom 26.9.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 19.12.2003 in vollem Umfang ersetzt habe. Die Klägerin erfülle sämtliche Anspruchsvoraussetzungen der Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach § 236a Abs 4
SGB VI in der Neufassung (
nF) des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz) vom 20.4.2007 (BGBl I 554). Denn sie sei vor dem 17.11.1950 geboren sowie am 1.5.2008 schwerbehindert gewesen und habe im 2008 das 60. Lebensjahr vollendet sowie die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt. Darüber hinaus sei sie auch am 16.11.2000 schwerbehindert gewesen, weil sie an diesem Tag im Besitz eines entsprechenden Schwerbehindertenausweises gewesen sei, der auch die Beklagte binde. Hierauf habe die Klägerin vertrauen dürfen. Nichts anderes ergebe sich aus dem Bescheid des Versorgungsamtes H. vom 17.7.2000, der frühestens im August 2000 unanfechtbar geworden sei. Denn nach § 38 Abs 1 Halbs 2 Schwerbehindertengesetz (
SchwbG 1986)
idF vom 26.8.1986 (BGBl I 1421), der damals gegolten habe, ende der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter, wenn sich der Grad der Behinderung - wie hier - auf weniger als 50 verringere, erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheides, hier also Ende November 2000. Dies habe das Versorgungsamt H. im Bescheid vom 17.7.2000 mit Bindungswirkung festgestellt. Bis zum Ablauf dieser dreimonatigen Schonfrist habe der Klägerin der komplette gesetzliche Schutz Schwerbehinderter auch im Hinblick auf die Rentenversicherung zugestanden. Denn der Wortlaut des § 38 Abs 1
SchwbG 1986 beschränke den nachgehenden Schutz nicht nur auf die Rechte nach dem
SchwbG, sondern spreche allgemein vom gesetzlichen Schutz. Insoweit unterscheide sich der Wortlaut dieser Vorschrift von ihrer Nachfolgebestimmung des § 116 Abs 1
SGB IX, der den Schutz des schwerbehinderten Menschen nach Herabsetzung des
GdB auf die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen begrenze. Die Schonfrist solle den Betroffenen die Umstellung auf den neuen, schutzlosen Zustand erleichtern, was auch für die Möglichkeit eines Renteneintritts als Schwerbehinderter gelten müsse. Dabei sei belanglos, dass der BFH (Urteil vom 22.9.1989 -
III R 167/86 - SGb 1991, 78 ff) entschieden habe, dass § 33b Einkommenssteuergesetz (EStG) keine Schutzvorschrift iS des § 38
SchwbG 1986 sei.
Mit der Revision, die das
LSG zugelassen hat, rügt die Beklagte eine Verletzung des § 236a Abs 4
SGB VI nF: Diese Vorschrift setze voraus, dass der Versicherte am 16.11.2000 gemäß
§ 2 Abs 2 SGB IX tatsächlich schwerbehindert gewesen sei und nicht lediglich - wie die Klägerin - vom (nachwirkenden) Schwerbehindertenschutz erfasst werde. Das
LSG wende § 38
SchwbG 1986 systemwidrig an, weil § 236a Abs 4
SGB VI nF eine Rechtsgrundverweisung auf das
SGB IX enthalte, das seinerseits die Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen der Schwerbehinderung allein bestimme. Einschlägig sei deshalb ausschließlich § 116 Abs 1
SGB IX, der - ebenso wie früher § 38 Abs 1
SchwbG 1986 - eine dreimonatige Nachwirkungszeit normiere. Indem der Gesetzgeber diese Vorschrift in den zweiten Teil des
SGB IX aufgenommen habe, stelle er gesetzessystematisch klar, dass sich die Schutzfrist nur auf die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen und damit auf die §§ 68 ff
SGB IX bezögen, nicht aber auf das
SGB VI. Die Schutzfrist solle einen bereits bestehenden Status für eine Übergangszeit bewahren, nicht jedoch künftige Begünstigungen (Rentengewährung) trotz fehlender Schwerbehinderteneigenschaft ermöglichen. Im Übrigen bestehe - auch nach einer Literaturmeinung - kein Anspruch nach § 236a
SGB VI, wenn der
GdB bei Beginn der Altersrente bereits unanfechtbar auf weniger als 50 festgelegt sei, auch wenn dieser Zeitpunkt noch innerhalb der dreimonatigen Schutzfrist liege. Das Versorgungsamt H. habe schließlich auch nicht bescheidmäßig mit Bindungswirkung für den Rentenversicherungsträger festgestellt, dass der gesetzliche Schutz der Klägerin als Schwerbehinderte erst Ende November 2000 ende. Vielmehr lasse sich der rechtskräftigen Entscheidung des Versorgungsamtes lediglich entnehmen, dass der für die Rentenversicherung entscheidende
GdB am Stichtag des 16.11.2000 weniger als 20 betragen und somit keine Schwerbehinderung vorgelegen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Oktober 2010 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 25. März 2009 zurückzuweisen.
Die Klägerin, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt schriftsätzlich,
die Revision zurückzuweisen.
Zu Unrecht nehme die Beklagte an, § 116 Abs 1
SGB IX sei anstelle von § 38 Abs 1
SchwbG 1986 einschlägig. Nach der Rechtsprechung des
BSG (Urteil vom 4.7.1989 -
9 RVs 3/88 - BSGE 65, 185 = SozR 1300 § 48 Nr 57) enthalte § 38
SchwbG 1986 eine "Schonfrist" und unterscheide im Übrigen nicht zwischen der dem schwerbehinderten Menschen mit einem
GdB von weniger als 50 vermittelten Schonung durch die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen einen Neufeststellungsbescheid mit einem
GdB von weniger als 50 und der sich gemäß Abs 1 anschließenden Schonfrist. Nach dem Wortlaut des § 236a Abs 4
SGB VI sei es gleichgültig, weshalb der Versicherte "schwerbehindert" sei. Der Hinweis auf die Legaldefinition des
§ 2 Abs 2 SGB IX sage lediglich, dass der frühere Rentenzugang für schwerbehinderte Menschen mit einem
GdB von 50 gelte. Für Gleichgestellte gelte er nicht. § 236a Abs 4
SGB VI nF differenziere nicht danach, ob der schwerbehinderte Mensch noch einen
GdB von 50 habe oder ob die Fortdauer der Auswirkungen eines
GdB von 50 fingiert werde. Jedenfalls § 38 Abs 1 Halbs 2
SchwbG 1986 sei zu entnehmen, dass sich der
GdB von 50 im Falle des Eintritts der Rechtskraft eines Neufeststellungsbescheids "erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheids" reduziere.
Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet.
Zu Recht hat das
LSG das klageabweisende Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 neu festzustellen und der Klägerin ab dem 1.5.2008 einen entsprechend höheren Rentenmonatsbetrag zu zahlen. Soweit es den Rentenbescheid vom 29.4.2008 nicht selbst geändert, sondern die Beklagte hierzu lediglich "verurteilt" hat, war der Urteilsausspruch wegen offenbarer Unrichtigkeit (§ 138 Satz 1
SGG) zu korrigieren (zur Korrekturbefugnis des Rechtsmittelgerichts
vgl. BSGE 11, 146, 148; 46, 34, 40 = SozR 1500 § 138 Nr 3). Aus den Entscheidungsgründen geht eindeutig hervor, dass das
LSG den angefochtenen Bescheid selbst beseitigen wollte. Da der Senat lediglich klarstellt, was das Berufungsgericht wollte, liegt keine Verbesserung zu Lasten der Beklagten und Revisionsklägerin vor (sog Verbot der reformatio in peius).
Mit dem Rentenbescheid vom 29.4.2008 hat die Beklagte über Rentenart, -beginn, -dauer und -höhe jeweils durch Verwaltungsakt (iS des § 31 Satz 1
SGB X) entschieden. Die Klägerin hat mit der Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Regelung 2
SGG) zuletzt noch den (wertfeststellenden) Verwaltungsakt über die Rentenhöhe angegriffen und mit der Leistungsklage die Verpflichtung der Beklagten zur Festsetzung eines höheren Rentenwerts unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors von 1,0 geltend gemacht sowie deren Verurteilung zur Zahlung eines höheren monatlichen Rentenbetrags begehrt. Diese sog unechte Leistungsklage hat die Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs 4
SGG konsumiert (BSGE 96, 209, 210 = SozR 4-2600 § 77 Nr 3 RdNr 11).
A. Diese Klagen sind zulässig. Das gilt auch für die Anfechtungsklage, obwohl vor Klageerhebung entgegen § 78 Abs 1 Satz 1
SGG weder Recht- noch Zweckmäßigkeit des Verwaltungsaktes über die Rentenhöhe in einem Vorverfahren nachgeprüft worden sind. Denn das obligatorische Vorverfahren, dessen ordnungsgemäße Durchführung grundsätzlich Sachurteilsvoraussetzung ist (
BSG SozR 3-1500 § 78 Nr 3 S 5 mwN; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
SGG, 9. Aufl 2008, § 78 RdNr 2), war gemäß § 78 Abs 1 Satz 2 Nr 1
SGG iVm § 96 Abs 1
SGG ausnahmsweise entbehrlich. Nach § 96 Abs 1
SGG, der hier schon
idF des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (BGBl I 444) gilt (vgl dazu
BSG Beschluss vom 16.12.2009 - B 7 AL 146/09 B - Juris RdNr 8), wird ein nach Klageerhebung ergehender neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des (Klage-)Verfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheides ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.
I. Ursprünglich hat die Klägerin den Bescheid vom 26.9.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 19.12.2003 angefochten (§ 95
SGG). Darin hatte die Beklagte allerdings noch nicht über ein Recht auf Rente entschieden, sondern mit der Ablehnung einer "Anerkennung der Vertrauensschutzregelung für Schwerbehinderte zum Stichtag am 16.11.2000" (iS des § 236a Satz 5 Nr 1
SGB VI aF) lediglich ein Tatbestandselement der Altersrente für schwerbehinderte Menschen vorab verneint: Diese Vorabentscheidung über einen isolierten Teil des Rentenanspruchs erfüllt sämtliche Begriffsmerkmale des Verwaltungsakts (§ 31 Satz 1
SGB X), weil die Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts das Ergebnis einer normativen Bewertung, nämlich die Unterordnung von Einzelfallumständen unter gesetzliche Tatbestandsmerkmale, mit unmittelbarer Außenwirkung verbindlich festlegen wollte. Derartige Vorbescheide, mit denen einzelne mit einer Verwaltungsentscheidung verbundene Rechtsfragen vorab geklärt werden, sind grundsätzlich möglich (
BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 11 und
BSG vom 17.6.2008 - B 8 AY 13/07 R - Juris RdNr 11). Für sie besteht gerade im Übergang vom Erwerbsleben zur Rente ein Bedürfnis, weil die Betroffenen frühzeitig disponieren und dazu wissen müssen, auf welche Rechtslage sie sich einzustellen haben (vgl
BSG aaO und SozR 4100 § 75 Nr 6; BVerwGE 57, 158, 161). Deshalb normiert das Gesetz vorgezogene Regelungen teilweise selbst (vgl etwa § 149 Abs 5 Satz 1
SGB VI; § 147a Abs 6 Satz 2
SGB III). Sie sind ansonsten aber auch ohne ausdrückliche gesetzliche Erlaubnis - letztlich als von der Ermächtigungsgrundlage zum Erlass des endgültigen Verwaltungsaktes umfasstes "weniger" - zulässig (BSGE 42, 178 = SozR 3850 § 51 Nr 3), soweit sich aus den einschlägigen Vorschriften oder aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen nichts anders ergibt (
BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 11 f). Der Klägerin, die 2003 bereits zu den rentennahen Jahrgängen zählte, genügte in ihrer damaligen Situation keine unverbindliche Rentenauskunft (§ 109 Abs 4 Satz 2
SGB VI in der hier noch maßgeblichen Ursprungsfassung), weil diese - auch angesichts der gegenteiligen Auffassung des Versorgungsamtes H. vom 31.7.2003 und des Landesversorgungsamtes Baden-Württemberg vom 16.9.2003 zum nachwirkenden Schwerbehindertenschutz - keine Rechtssicherheit hätte schaffen können. Andererseits enthielt § 109
SGB VI aF kein Vorabentscheidungsverbot, und es sind auch keine anderen gesetzlichen Bestimmungen ersichtlich, die eine Vorabentscheidung über die Vertrauensschutzregelung für Schwerbehinderte zum Stichtag am 16.11.2000 ausgeschlossen hätten.
II. Lag damit ursprünglich ein anfechtbarer Verwaltungsakt vor, so ist dieser durch den wertfeststellenden Verwaltungsakt im Rentenbescheid vom 29.4.2008, der sowohl nach Erlass des Widerspruchsbescheids vom 19.12.2003 als auch nach Klageerhebung ergangen ist, ersetzt worden. In Anlage 6 dieses Rentenbescheids hat die Beklagte den Zugangsfaktor wegen vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente für 36 Kalendermonate von 1,0 um 0,108 (= 36 Monate x 0,003) auf 0,892 vermindert. Damit hat sie die vertrauensschutzregelnde Übergangsvorschrift des § 236a Abs 4
SGB VI nF nicht angewendet und der Klägerin zugleich den Vertrauensschutz für schwerbehinderte Menschen zum Stichtag am 16.11.2000 versagt. Hierdurch verlor die im Vorbescheid vom 26.9.2003 enthaltene Regelung gleichzeitig ihre präjudizielle Funktion und damit jegliche rechtliche Bedeutung; der vorabentscheidende Verwaltungsakt erledigte sich gemäß § 39 Abs 2
SGB X wegen Wegfalls des Regelungsobjekts "auf andere Weise" (vgl
BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7). An seine Stelle trat während des anhängigen Klageverfahrens der wertfeststellende Verwaltungsakt im Rentenbescheid, der die Regelung im Vorbescheid vollständig ersetzte (§ 96 Abs 1
SGG). Dabei ist unerheblich, dass sich beide Verwaltungsakte auf unterschiedliche Rechtsgrundlagen (§ 236a Satz 5
SGB VI aF einerseits und § 236a Abs 4
SGB VI nF andererseits) stützen (
BSG Beschluss vom 28.10.2009 - B 6 KA 56/08 B - Juris RdNr 13).
B. Die Klagen sind auch begründet. Der Monatsbetrag der Rente (§ 64
SGB VI) ist rechnerisch das Produkt aus der Summe der EP und Zugangsfaktor (beide zusammen bilden die persönlichen EP), Rentenartfaktor und aktuellem Rentenwert. Die Klägerin hat den wertfeststellenden Verwaltungsakt nur insoweit angefochten, als die Beklagte den Zugangsfaktor wegen der angeblich vorzeitigen Inanspruchnahme (§ 236a Abs 1 Satz 2, Abs 2 Satz 1
SGB VI nF) der Rente um 36 Monate von 1,0 um 0,108 auf 0,892 gekürzt (§ 77 Abs 2 Nr 2a
SGB VI) und damit anstelle von 38,5085 persönlichen EP, die sich bei einem Zugangsfaktor von 1,0 ergeben hätten, nur 34,3496 persönliche EP in die Rentenformel eingestellt hat. Diese Wertfeststellung ist rechtswidrig.
Denn die Klägerin hat die Altersrente für schwerbehinderte Menschen gemäß § 236a Abs 4
SGB VI in der zum 1.1.2008 in Kraft getretenen neuen Fassung durch Art 1 Nr 58 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl I 554) nach Vollendung ihres 60. Lebensjahres und damit nicht vorzeitig in Anspruch genommen, sodass die Voraussetzungen einer Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs 2 Nr 2a
SGB VI nicht vorlagen. Gemäß § 236a Abs 4
SGB VI nF, der hier wegen des Rentenbeginns am 1.5.2008 anwendbar ist, haben Versicherte, die vor dem 17.11.1950 geboren sind und am 16.11.2000 schwerbehindert (§ 2 Abs 2
SGB IX), berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31.12.2000 geltenden Recht waren, Anspruch auf Altersrente für schwerbehinderte Menschen, wenn sie
1. das 60. Lebensjahr vollendet haben,
2. bei Beginn der Altersrente
a) als schwerbehinderte Menschen (§ 2 Abs 2
SGB IX) anerkannt oder
b) berufsunfähig oder erwerbsunfähig nach dem am 31.12.2000 geltenden Recht sind
und
3. die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt haben.
Das
LSG hat bindend festgestellt (§ 163
SGG), dass die Klägerin vor dem 17.11.1950 (am 1948) geboren ist, im 2008 und damit vor Rentenbeginn am 1.5.2008 das 60. Lebensjahr vollendet hatte, bei Rentenbeginn als schwerbehinderter Mensch anerkannt war (Bescheid des Versorgungsamts H. vom 18.2.2003) und die Wartezeit von 35 Jahren erfüllt hatte.
Sie war am Stichtag 16.11.2000 auch schwerbehindert. § 236a
SGB VI ist eine übergangsrechtliche Vertrauensschutzregelung für einen besonders schutzwürdigen Kreis von Schwerbehinderten, der zum Zeitpunkt der dritten Lesung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Bundestag darauf vertrauen konnte, aufgrund der zu diesem Zeitpunkt bestehenden Einschränkungen die Altersrente für Schwerbehinderte mit dem 60. Lebensjahr beziehen zu können (vgl etwa O´Sullivan in jurisPK-SGB VI, Stand 6.10.2008, § 236a
SGB VI RdNr 43). In dieser Funktion stellt die Norm umfassend auf den durch den Status als Schwerbehinderter vermittelten Schutz und nicht etwa nur begrenzt auf bestimmte Schwerbehinderte als Inhaber dieses Schutzes ab. Zum begünstigten Personenkreis gehören damit auch diejenigen, die - wie die Klägerin - am Stichtag 16.11.2000 aufgrund einer besonderen gesetzlichen Anordnung als Schwerbehinderte anzusehen sind.
Diesem Ergebnis steht auch der Wortlaut von § 236a
SGB VI nicht entgegen, obwohl der Klammer-Hinweis auf "§ 2 Abs 2 Neuntes Buch" den Anschein erwecken könnte, die Übergangsregelung sei nur auf diejenigen Schwerbehinderten beschränkt, die am Stichtag auch die in dieser Norm genannten tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen. Insofern ist zunächst darauf hinzuweisen, dass § 2 Abs 2
SGB IX erst zum 1.7.2001 in Kraft getreten ist und damit am Stichtag 16.11.2000 noch nicht anwendbar war. Da die Vorschrift jedoch inhaltlich dem bis zum 30.6.2001 geltenden Recht entspricht (vgl
BSG Beschluss vom 8.8.2001 -
B 9 SB 5/01 B - Juris und BSGE 106, 101 ff = SozR 4-3250 § 2 Nr 2), handelt es sich insofern für die Zeit ab dem 1.7.2001 um eine bloße Textänderung ohne Änderung des hierdurch verkörperten Rechts und entspricht damit umgekehrt der Verweis in § 236a Abs 4
SGB VI auf das aktuell in § 2 Abs 2
SGB IX verkörperte Recht der Sache nach einem Hinweis auf den am Stichtag 16.11.2000 tatsächlich geltenden § 1
SchwbG; auf diese Norm war in der bis zum 30.6.2001 geltenden Fassung von § 236a
SGB VI auch ausdrücklich verwiesen worden.
Das
LSG durfte offen lassen, ob die Klägerin am 16.11.2000 die tatbestandlichen Voraussetzungen des damit einschlägigen § 1
SchwbG erfüllte, d.h. ob sie noch oder wieder über einen
GdB von 50 verfügte und (rechtmäßig) im Inland wohnte, sich dort aufhielt oder beschäftigt war. Vom im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Schutz als schwerbehinderte Menschen sind nämlich auch diejenigen erfasst, die am Stichtag nach der allgemeinen Regelung in § 38 Abs 1 Halbs 2
SchwbG 1986 dem gesetzlichen Schutz als Schwerbehinderte unterfallen und die deshalb ihre Schwerbehinderteneigenschaft zu diesem Zeitpunkt noch mit einem gültigen Schwerbehindertenausweis nachweisen können. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist am 16.11.2000 noch diese Norm, die erst am 30.6.2001 außer Kraft getreten ist (Art 63
iVm Art 68 Abs 1
SGB IX), anwendbar, während der erst am 1.7.2001 ohne Rückwirkung in Kraft getretene (Art 68 Abs 1
SGB IX) § 116
SGB IX insofern nicht in Betracht kommt. Das Schwerbehindertenrecht sieht auch diesen Personenkreis noch vorübergehend (fiktiv) als schwerbehinderte Menschen an.
§ 38 Abs 1 Halbs 1
SchwbG 1986 setzt zunächst als unausgesprochene Grundregel voraus, dass der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter besteht, solange - unabhängig von deren Feststellung - die Voraussetzungen nach § 1
SchwbG für die Schwerbehinderteneigenschaft vorliegen. Umgekehrt erlischt dieser Schutz nach der aaO ausdrücklich getroffenen Regelung, wenn - wiederum unabhängig von einer entsprechenden Feststellung - die Voraussetzungen nach § 1
SchwbG entfallen. Wird schließlich die Verringerung des
GdB auf weniger als 50 durch Bescheid festgestellt, erlischt nach § 38 Abs 1 Halbs 2
SchwbG 1986 der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter erst am Ende des dritten Kalendermonats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit dieses Bescheides. Da auch im letztgenannten Fall trotz der tatbestandsmäßig vorausgesetzten bestandskräftigen Feststellung einer Verringerung des
GdB auf weniger als 50 für die Dauer der dreimonatigen Schonfrist ausdrücklich ein zeitlich begrenzt fortbestehender "gesetzlicher Schutz" als "Schwerbehinderter" angeordnet wird, setzt das Gesetz auch dort die Eigenschaft als Schwerbehinderter weiter voraus und fingiert damit den Status, der sich sonst bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 1
SchwbG ergibt. Die Gesamtheit der so unmittelbar aufgrund der Erfüllung der Voraussetzungen nach § 1
SchwbG oder fiktiv auf der Grundlage von § 38 Abs 1 Halbs 2
SchwbG 1986 als Schwerbehinderte anzusehenden Personen genießt damit den durch diesen Status vermittelten Schutz und ist folglich auch von der Schutznorm des § 236a Abs 4
SGB VI erfasst. Soweit diese auf § 1
SchwbG ("§ 2 Abs 2 des Neunten Buchs") verweist, beschränkt sich diese Inbezugnahme daher auf die Rechtsfolge dieser Norm und die nur exemplarische Benennung ihres Tatbestandes als eines von mehreren Wegen, die zum Status als Schwerbehinderter führen können. Die Materialien zu § 236a Abs 4
SGB VI und seinen Vorgängernormen, stehen diesem Ergebnis nicht entgegen. Sie enthalten keinen Hinweis darauf, dass die vorliegende Konstellation von den Entwurfsverfassern oder im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens bedacht worden wäre. Erkennen lässt sich dort lediglich, dass mit der gewählten Formulierung dem - im Laufe des Verfahrens auch erörterten - Ausschluss der den Schwerbehinderten Gleichgestellten (§ 2
SchwbG) mit einem
GdB von wenigstens 30, aber weniger als 50, Rechnung getragen werden sollte.
Auf der Grundlage von § 38 Abs 1 Halbs 2
SchwbG 1986 hat die Versorgungsverwaltung vorliegend durch den Bescheid vom 17.7.2000 neben der Aufhebung/Änderung der Verwaltungsakte aus dem Bescheid vom 18.11.1994 (Feststellung des
GdB von 50 und Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft) als weiteren Verwaltungsakt verlautbart, dass der gesetzliche Schutz der Klägerin als Schwerbehinderte erst mit Ende November 2000 - und damit erst nach dem 16.11.2000 - erlischt. Diese die Klägerin begünstigende Regelung ist zusammen mit den im Bescheid vom 17.7.2000 getroffenen anderen Regelungen wirksam und nach den Feststellungen des
LSG auch bestandskräftig geworden. Es handelt sich dabei nach der Rechtsprechung des
BSG um einen Verwaltungsakt, der konkret für den jeweiligen Einzelfall das Ende der Schwerbehinderteneigenschaft regelt und der damit zahlreiche Rechtsverhältnisse - unter anderem gegenüber Sozialversicherungsträgern - beeinflusst (BSGE 65, 185 = SozR 1300 § 48 Nr 57).
Das einheitliche Schutzkonzept des Schwerbehindertenrechts, an das § 236a Abs 4
SGB VI anknüpft, wird durch die Regelungen über den Schwerbehindertenausweis im hier noch anzuwendenden § 4 Abs 5
SchwbG 1986 bestätigt. Nach Abs 2 aaO dient der Ausweis dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Rechten und Nachteilsausgleichen, die Schwerbehinderten nach dem
SchwbG oder nach anderen Vorschriften zustehen. Mit dem Hinweis auf andere Vorschriften außerhalb des
SchwbG bindet der Gesetzgeber auch Dritte an den Inhalt des Schwerbehindertenausweises, der damit zur öffentlichen Urkunde (§ 415
ZPO) wird, die eine Behörde (das Versorgungsamt) innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse (Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.7.1991, BGBl I 1739) ausstellt und eine behördliche Erklärung iS von § 417
ZPO enthält. Als öffentliche Urkunde erbringt der Schwerbehindertenausweis den vollen Beweis seines Inhalts gegenüber jedem Dritten (vgl Ausschussbericht, BT-Drucks 7/4960 S 5 f; BSGE 60, 11, 16 =
BSG SozR 3870 § 3 Nr 21; BSGE 60, 284, 285 = SozR 3870 § 3 Nr 23; SozR 3-3870 § 4 Nr 4 S 20; BVerwGE 66, 315, 320; Dau in Dau/Düwell/Joussen, LPK-SGB IX, 3. Aufl 2011, § 69 RdNr 39; Kossens in Kossens/von der Heide/Maaß,
SGB IX, 3. Aufl 2009, § 69 RdNr 51; Oppermann in Hauck/Noftz,
SGB IX, K § 69 RdNrn 36, 38, Stand
IV/11; Schorn in Müller-Wenner/Schorn,
SGB IX Teil 2, 2003, § 69 RdNr 113; Stähler/Bieritz-Harder in Lachwitz/Schellhorn/Welti, HK-SGB IX, 3. Aufl. 2010, § 69 RdNr 20; Voelzke, SGb 1991, 80) und beweist, dass das Versorgungsamt die im Ausweis gekennzeichneten Entscheidungen getroffen hat. Diese (drittwirkende) Beweisfunktion des Schwerbehindertenausweises ist schon deshalb notwendig, weil die Versorgungsverwaltung oftmals nicht selbst über soziale Leistungen und Vergünstigungen entscheidet. Stattdessen stellt sie nach einheitlichen Maßstäben für andere Behörden (zB Sozialversicherungsträger, Finanzämter, Hauptfürsorgestelle) und sonstige Dritte (zB Arbeitgeber, öffentliche Einrichtungen, GEZ) Beginn, Dauer und Ende der Schwerbehinderteneigenschaft, des
GdB und weiterer gesundheitlicher Merkmale fest, die außerhalb der originär versorgungsbehördlichen Zuständigkeit verschiedenartige Berechtigungen auslösen (BSGE 52, 168, 174 = SozR 3870 § 3 Nr 13; Voelzke, SGb 1991, 80, 81). Die Bindungswirkung und Beweisfunktion erstreckt sich auf die gesamte Gültigkeitsdauer des Schwerbehindertenausweises; er ist erst einzuziehen, wenn eine Neufeststellung unanfechtbar geworden und der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter erloschen ist (§ 4 Abs 5 Satz 4
SchwbG 1986). Dies belegt, dass das Schwerbehindertenrecht auch den Personenkreis, der während der Schonfrist noch von der nachwirkenden Schutzwirkung erfasst wird, weiterhin unverändert als schwerbehinderte Menschen ansieht. Während der nachwirkenden dreimonatigen Schutzfrist des § 38 Abs 1
SchwbG 1986 müssen Behörden deshalb die Eintragungen im Schwerbehindertenausweis ungeprüft zugrunde legen und davon abweichende Feststellungen in Änderungsbescheiden ignorieren. Die Beklagte ist daher an die Festschreibung des Versorgungsamts H. im Schwerbehindertenausweis der Klägerin gebunden, dass deren Schwerbehindertenschutz erst "Ende Nov. 2000" abläuft (§ 4 Abs 5 Satz 2
SchwbG 1986).
Dass sich der auf diese Weise vermittelte gesetzliche Schutz Schwerbehinderter auch auf die abschlagsfreie Inanspruchnahme der vorgezogenen Altersrente für schwerbehinderte Menschen nach § 236a Satz 5
SGB VI aF bzw § 236a Abs 4
SGB VI nF erstreckt, ergibt sich, wenn man den Begriff des "gesetzlichen Schutzes Schwerbehinderter" nach seinem Wortsinn (a), der Entstehungsgeschichte (b), seiner systematischen Stellung (c) sowie nach Sinn und Zweck (d) auslegt.
a) Der Bedeutungsumfang des Ausdrucks "der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter" ist weit und enthält keine Einschränkungen seines Schutzbereichs. Er erfasst damit nicht nur Schutzvorschriften des
SchwbG, sondern auch alle anderen (materiellen) Gesetze, die Schwerbehinderte begünstigen, indem sie ihnen Rechte, Nachteilsausgleiche oder sonstige Leistungen gewähren oder einräumen. Zu diesen (Schutz-)Gesetzen zählt damit auch § 236a Abs 4
SGB VI nF, der es gerade schwerbehinderten Menschen ermöglicht, eine Altersrente vorzeitig und abschlagsfrei in Anspruch zu nehmen.
b) Die historische Interpretation bestätigt das weite Wortverständnis. Entwicklungshistorisch ist der sachliche Schutzbereich der Nachwirkung bis zum Inkrafttreten des
SGB IX immer weiter ausgedehnt worden und erfasst auch nach überwiegender Meinung in der rechtswissenschaftlichen Literatur die vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen (§ 236a
SGB VI nF).
Die nachwirkende Schutzfrist geht auf das "Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter" (SchwbeschG 1920) zurück, das in seiner Ursprungsfassung vom 6.4.1920 (RGBl 458) den Fortfall des gesetzlichen Schutzes Schwerbeschädigter allerdings (noch) nicht speziell regelte. Wer nicht mehr schwerbeschädigt war, weil die
MdE unter 50 vH sank, verlor danach den Schutz des Gesetzes sofort (Weigert-Wölz, Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter, 1921, Anm 8 zu § 3; Schimanski in
GK-SchwbG, 2. Aufl 1999, § 38 RdNr 4). Allerdings führte der Gesetzgeber schon mit der Novellierung des SchwbeschG vom 23.12.1922 (RGBl I 972) in der Fassung vom 12.1.1923 (RGBl I 57) mit § 20 Abs 2 SchwbeschG 1923 einen vorübergehenden Schutz für Personen ein, die nicht mehr schwerbeschädigt waren. Schwerbeschädigten, die bei der Neufestsetzung ihrer Rente die Schwerbeschädigteneigenschaft einbüßten, sollte der Schutz des SchwbeschG noch für eine gewisse Zeit erhalten bleiben, um zu verhindern, dass sie von ihrem Arbeitgeber sofort gekündigt wurden (Schneider/Günther, Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter, 1928, Vorbem. b) zu § 20). Ihnen sollte der Übergang in ein von den Vorschriften des SchwbeschG nicht mehr geschütztes Arbeitsverhältnis erleichtert werden (Richter, Das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter, 2. Aufl 1931, Vorbem. zu § 20). § 20 Abs 2 SchwbeschG 1923 bestimmte:
"Schwerbeschädigte (§ 3), deren Rente bei erneuter Festsetzung auf weniger als 50 vom Hundert herabgesetzt wird, genießen noch für ein Jahr von der Rechtskraft der neuen Entscheidung den Schutz dieses Gesetzes."
Hieran knüpfte § 24 Satz 1 des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwbeschG 1953) vom 16.6.1953 (BGBl I 389) an und stellte in Satz 2 klar, dass die Betroffenen während der Schutzfrist auf die Pflichtquote des Arbeitgebers anzurechnen waren. Satz 1 der Vorschrift lautete:
"Schwerbeschädigte, bei denen der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf weniger als 50 vom Hundert festgesetzt wird, genießen noch für ein Jahr nach Eintritt der Rechtskraft des Festsetzungsbescheides den Schutz des Gesetzes."
§ 35 Abs 1 des Schwerbehindertengesetzes (
SchwbG 1974) vom 29.4.1974 (BGBl I 1006) erweiterte den Schutzbereich über die Grenzen "dieses" bzw "des Gesetzes" hinaus auf jedes Schutzgesetz und verlängerte die Nachwirkungsfrist bis zum Ende des Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides folgte, der die
MdE verringert hatte. Er lautete:
"Der gesetzliche Schutz Schwerbehinderter erlischt, wenn sich der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf weniger als 50 vom Hundert verringert, dies jedoch erst am Ende des Kalenderjahres, das auf den Eintritt der Unanfechtbarkeit des die Verringerung feststellenden Bescheides folgt."
Zusammenfassend ergibt sich aus der Vorgeschichte, dass der Nachwirkungsschutz ursprünglich auf die Vorteile beschränkt war, die das SchwbeschG 1923 vorsah ("Schutz dieses Gesetzes"), im weiteren Verlauf durch eine offenere Formulierung auch auf andere Gesetze ("Schutz des Gesetzes") erstreckt (Wechsel vom Demonstrativpronomen "dieses" zum bestimmten Artikel "des") und schließlich ohne Bezug auf bestimmten Rechtsquellen einschränkungslos auf jede gesetzliche Schutznorm erweitert wurde ("der gesetzliche Schutz"). Mit dem
SchwbG 1986 vereinheitlichte und verkürzte der Gesetzgeber den zeitlichen Schutzbereich (d.h. die Schonfrist) der Nachwirkungsnorm zum 1.8.1986 auf drei Kalendermonate, ohne jedoch ihren sachlichen Schutzbereich einzuengen.
Auch die Literatur bestimmte die Reichweite der Nachwirkung des § 38 Abs 1 Satz 1
SchwbG 1986 und seiner Vorgängerregelungen weit. Im Rahmen von § 24 SchwbeschG 1953 und § 25 SchwbeschG 1961 in der Fassung vom 14.8.1961 (BGBl I 1233) bestand weitgehend Einigkeit, dass der Schwerbeschädigte während der Nachwirkungsfrist noch in vollen Umfang als solcher zu behandeln sei (Becker, SchwbeschG, 2. Aufl 1962, § 25 RdNr 6; Gröninger, SchwbeschG, Stand Juni 1962, § 25 (= § 24
aF) Anm 4; Monjau, SchwbeschG, 1954, Anm zu § 24; Rohwer-Kahlmann/ Schroeder-Prinzten, SchwbeschG, Kommentar, Stand 1957, § 24 RdNr 11; Sellmann, Kommentar zum SchwbeschG, 1954, § 24 RdNr 6; Wilrodt-Gotzen, SchwbeschG, 1953, § 24 RdNr 7; Zigan, Kommentar zum SchwbeschG, 1953, § 24 RdNr 4; aA nur Rewolle, SchwbeschG, 6. Aufl 1973, Anm V 2 zu § 25). Nach Ritzer (Kommentar zum
SchwbG, 1974, § 35 Anm 1), Wilrodt/Neumann (Kommentar zum
SchwbG, 4. Aufl 1976, § 35 RdNr 2) und Neubert/Becke (
SchwbG, 1974, § 35 Anm 6) bezweckte § 35
SchwbG 1974, dass der Schwerbehinderte bis zum Ablauf der Schonfrist im Genuss aller Rechte aus dem
SchwbG bleiben solle. Zu § 38
SchwbG 1986 präzisierte Pahlen (in Neuman/Pahlen,
SchwbG, 9. Aufl 1999, § 38 RdNr 13), dass der Schwerbehinderte im Genuss aller Rechte aus dem
SchwbG und sonstiger Schutzbestimmungen bleibe. Schimanski (
GK-SchwbG, 2. Aufl 1999, § 38 RdNr 80) legte ausdrücklich dar, dass Schwerbehinderte bis zum Ablauf der Nachwirkungszeit alle Rechte und Pflichten besäßen, die ihnen die Gesetze gäben (ähnlich auch Voelzke, SGb 1991, 80 f). Hierzu zähle auch der Anspruch auf flexibles Altersruhegeld ab Vollendung des 60. Lebensjahres. Gouder (in Wiegand, Kommentar zum
SchwbG, Stand Januar 2001, § 38 RdNr 16) führte aus, den Betroffenen stehe bis zum Ablauf der Schonfrist der komplette gesetzliche Schutz Schwerbehinderter auch im Hinblick auf die Rentenversicherung zu. Nur Cramer (
SchwbG, 5. Aufl 1998, § 38 RdNr 2a) verneinte einen Anspruch nach § 37
SGB VI, wenn der
GdB - bezogen auf den Rentenbeginn (hier: 1.5.2008) - bereits unanfechtbar auf weniger als 50 festgestellt sei, auch wenn dieser Zeitpunkt noch innerhalb der dreimonatigen Schonfrist liege (ähnlich Weber,
SchwbG, Stand Mai 2000, § 38 Anm 3; so jetzt auch zu § 116
SGB IX Kossens, aaO, § 116 RdNr 5). Ob sich diese Ausführungen auch auf den hier maßgeblichen Stichtag (16.11.2000) beziehen, lassen Cramer (aaO) und Weber (aaO) allerdings offen. Die rentenversicherungsrechtliche Literatur beschäftigt sich - soweit ersichtlich - nicht mit dem Nachwirkungsschutz des § 38 Abs 1
SchwbG 1986 und seinen Folgen für die Vertrauensschutzregelungen des § 236a
SGB VI.
c) Die logisch-systematische Interpretation spricht ebenfalls für eine große Reichweite der Nachwirkung. Denn § 38
SchwbG 1986 sprach allgemein und gesetzesübergreifend vom "gesetzlichen Schutz", während § 39
SchwbG 1986 einschränkend und gesetzesimmanent auf "die Vorteile dieses Gesetzes" rekurrierte. Unterscheidet der Gesetzgeber in dieser Weise in aufeinanderfolgenden Bestimmungen zwischen verschiedenen Schutzbereichen, so muss man zum "gesetzlichen Schutz" auch die Rechte, Nachteilsausgleiche und Begünstigungen zählen, die schwerbehinderten Menschen nach Vorschriften außerhalb des
SchwbG zustehen (vgl dazu auch Cramer, aaO). Dabei bestimmt sich das Zusammenspiel der beiden ranggleichen Bundesnormen (§ 38
SchwbG 1986 einerseits und § 236a Abs 4
SGB VI nF andererseits) nach dem Leitgedanken von der Einheit der Rechtsordnung: § 236a Abs 4
SGB VI nF ist eine Schutznorm zugunsten Schwerbehinderter; wer (noch) schwerbehindert ist, regelt u.a. § 38
SchwbG 1986.
d) Wie sich bereits aus der Entstehungsgeschichte ergibt, bestand der Zweck der Schonfrist ursprünglich darin, ehemals Schwerbeschädigten
bzw. Schwerbehinderten einen nachwirkenden Kündigungsschutz zu verschaffen und ihnen in der Umstellungsphase den Übergang in ein Arbeitsverhältnis zu erleichtern, das vom SchwbeschG
bzw. SchwbG nicht mehr geschützt war (Gouder, aaO, § 38 RdNr 7). In der Folgezeit blieb dieser Schutz jedoch nicht auf das Arbeits- und Berufsleben beschränkt (
vgl. dazu Franz, Schwerbehindertengesetz mit Praxiskommentar, 4. Aufl 1995, § 38 RdNr 350), sondern wurde auf eine nahezu unübersehbare Vielzahl weiterer Vorteile und Vergünstigungen ausgedehnt, wenngleich der besondere Kündigungsschutz des Schwerbehindertenrechts weiterhin zu den zentralen und wichtigsten Anwendungsfeldern der Schonfrist zählte. Der Gedanke, Schwerbehinderten die Umstellung auf eine neue Erwerbsquelle zur Sicherung des Lebensunterhalts zu erleichtern, trägt aber auch und gerade im Übergang vom Arbeitsleben in die Rente. Denn hier wie da kann der Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft großen Einfluss auf die zukünftige Lebensplanung haben (Aufhebungsvertrag, Kündigung, Arbeitslosigkeit, Altersteilzeitvereinbarung) und umfangreiche Vermögensdispositionen im Hinblick auf die Alterssicherung oder eine längere Erwerbsphase erfordern. Zudem besteht beim Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft auch heute noch ein erhöhtes Kündigungsrisiko mit der Gefahr anschließender Arbeitslosigkeit, die durch die vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen gerade reduziert werden sollte (vgl dazu Künzler in Eichenhofer/Rische/Schmähl, Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung
SGB VI, 2011, Kap 12 RdNr 33). In diesem Kontext erscheint die Nachwirkung der Schwerbehinderteneigenschaft besonders dringlich, so dass auch unter teleologischen Gesichtspunkten die weite Auslegung vorzugswürdig ist.
Dass die Klägerin unter diesen Umständen aufgrund des befristeten Schutzes als Schwerbehinderte einen dauerhaften rentenrechtlichen Vorteil erhält, ist Resultat der vom Gesetzgeber verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich (
vgl. zuletzt etwa
BVerfG Kammerbeschluss vom 20.4.2011 - 1 BvR 1811/08 - ZFSH/SGB 2011, 337 ff) und in sachgerechter Anknüpfung an den Tag der dritten Lesung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Bundestag gewählten Stichtagsregelung. Diese bringt - ohne dass sich hieraus Bedenken gegen ihre Verfassungsmäßigkeit ergäben - durch ihr punktuelles Vorgehen "im Guten wie im Bösen" stets unvermeidbar Unwägbarkeiten mit sich, die bei einer zeitlichen Längsschnittbetrachtung ggf vermieden werden könnten. So bliebe etwa auch unberücksichtigt, wenn ein tatsächlich einen
GdB von 50 rechtfertigender körperlicher, geistiger oder seelischer Zustand unmittelbar vor dem Stichtag entfiele oder bereits am Stichtag feststünde, dass er demnächst mit der Folge eines
GdB unter 50 entfallen werde. Für den Umstand, dass der Stichtag in die von vornherein begrenzte Schonfrist fällt oder nicht, gilt nichts anderes.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193
SGG.